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Gamechanger Erd-Energie: Die Expertin im Interview

Im 1. Halbjahr 2024 stehen die Fertigstellungen von „Wohnen in St. Gotthard“ und dem vielfach ausgezeichneten „G’mischten Block“ an. Gesamt entstehen hier fast 200 Wohnungen sowie etwa 3.000 m² Gewerbeflächen, die mit nachhaltiger Energieversorgung durch Geothermie aufwarten. Um dieser innovativen Technologie auf den Grund zu gehen, haben wir Expertin Anita Angerer befragt, die bei PORR die Leitung der Geothermie innehat und in Planung & Ausführung unserer Anlagen an vorderster Front mit dabei war.

Anita, was macht die Kraft der Erdwärme so besonders?

Dass sie eine immer funktionierende und von der Weltpolitik unabhängige und saubere Energiequelle ist, die 24 Stunden am Tag sommers wie winters in immer gleichbleibender Qualität und mit hohem Wirkungsgrad tatsächlich CO2-neutral zur Verfügung steht – sofern für die Wärmepumpe grüner Strom vorhanden ist. Es gibt also keine Emissionen am Standort, auch nicht was Lärm oder Feinstaub betrifft. Gerade in Städten ist das ein wesentlicher Vorteil. 

 

In einfachen Worten: Wie funktioniert Geothermie?

Geothermie nutzt die natürliche und ganzjährig konstante Wärme aus dem Inneren der Erde, um nachhaltig Energie zu erzeugen und damit Räume oder Nutzwasser zu heizen oder zu kühlen. Dafür stehen unterschiedliche Methoden zur Verfügung.

 

Geothermie ist also nicht gleich Geothermie?

Nein, nicht ganz. Wir unterscheiden zwischen oberflächennaher und tiefer Geothermie – und da steht eine völlig andere Technologie dahinter. Für Erdwärme aus der Tiefe, wo du direkt 100° warmes Wasser erbohrst, gehst du 3-4 Kilometer tief, mit Geräten ähnlich wie für Erdölbohrungen. Die Stadt Wien verfolgt dieses Prinzip, um die kommunale Fernwärmeversorgung auf erneuerbare Energien umzustellen.

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Und was passiert bei der oberflächennahen Geothermie?

Bei der oberflächennahen Geothermie gehst du auf dem Grundstück des zu versorgenden Gebäudes bspw. mit Erdwärmesonden nur 100-200 Meter tief ins Erdreich. Hier lässt du in einem Kunststoff-Schlauch eine Flüssigkeit – Sole – zirkulieren. Du schickst das Wasser kalt runter und holst es um 3-4 Grad wärmer wieder rauf.

 

Mit diesem Energiegewinn braucht es nur mehr ein kleines Delta T, um die gewünschte Raumtemperatur im Heizkreislauf herzustellen – und das erledigt die Wärmepumpe. Drei Viertel der erzeugten Energie stammen aus dem Erdreich, das restliche Viertel wird über die Wärmepumpe generiert.

Welche Alternativen gibt’s zur Erdwärmesonde?

Erdwärmekollektoren. Die verlaufen nur knapp 1-2 Meter unter der Erdoberfläche, haben allerdings einen wesentlich höheren Flächenbedarf und auch die Überbauung ist dann nicht so einfach. Weiters gibt es das offene System einer Brunnenanlage, bei dem Grundwasser genutzt wird. Es ist weitaus wartungsintensiver, Wasserstandsschwankungen und möglichen Versickerungsproblemen unterworfen, und es verlangt im Betrieb viel mehr Know-how.

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Für dich ist die Erdwärmesonde also in den meisten Fällen die beste Lösung?

Ja! Weil es vom Platzbedarf her auf fast jedem Grundstück machbar ist. Weil es ein geschlossenes System ist – und damit ungemein wartungsarm. Die Leute lieben das! Nichts kann rein oder raus, das Wasser zirkuliert von äußeren Einflüssen unabhängig vor sich hin.

 

Sobald die Erdwärmesonden die Durchfluss- und Druckprüfung nach Einbau bestanden haben, läuft das System auf Lebenszeit. Nach etwa 30 Jahren braucht es nur das Investment in eine neue Wärmepumpe.

 

Unsere Sommer werden immer heißer. Wie funktioniert Kühlung durch Erdwärme?

Bei geringem Kühlbedarf funktioniert dies durch passive Kühlung über jene 14 Grad Temperatur, die in etwa 150 Meter Tiefe stabil im Erdreich vorliegen, ohne Aktivierung der Wärmepumpe und damit ohne weiteren Stromeinsatz. Bei höherem Kühlbedarf erfolgt dies durch aktive Kühlung, indem der Großteil der Kühle wiederum aus dem Erdreich entnommen wird und die Wärmepumpe – genau wie beim Heizvorgang – das gewünschte Temperaturniveau herstellt. Aktive Kühlung über die Wärmepumpe ist damit weitaus weniger kostenintensiv als eine Klimaanlage und es wird auch keine weitere Hitze an die Umgebung abgegeben, was bei einer Klimaanlage sehr wohl der Fall ist.

 

Warum durchläuft Geothermie plötzlich so einen Boom, wie hat sich das entwickelt?

Die Technologie als solche ist schon lange da, der Startschuss für die Popularität ist aber sicherlich mit dem in der EU abgeschlossenen Green Deal auszumachen. Der besagt, dass unsere Immobilien mit einer nachhaltigen Energieversorgung ausgerüstet werden müssen, weil Gebäude künftig auch an ihren Emissionen gemessen und bewertet werden. Einen weiteren Schub hat es dann durch die sich in den letzten Jahren verändernde Weltlage bekommen. Die Verteuerung anderer Energieträger hat den Amortisationszeitraum verkürzt und den Wunsch nach weniger Abhängigkeit durch äußere Einflüsse vergrößert. 

 

Bemerkst du also ein Umdenken bei den Auftraggebern?

Definitiv bemerke ich ein Umdenken – an den täglichen Anfragen, an der Vielzahl der bereits realisierten Projekte und am Wachstum unserer Abteilung, die in den letzten 12 Jahren von einer Teilzeit-One-Woman-Show auf eine 40köpfiges, voll ausgelastetes Team angewachsen ist. Die Amortisationszeit von etwa 10 Jahren, die sich bei gestiegenem Gaspreis kurzfristig auf 5-7 Jahre reduziert hatte, ist sicherlich für viele Auftraggeber nach wie vor eine Hürde, insbesondere bei jenen, die nur kurzfristig an die Baukosten denken. Jedoch wird es immer schwieriger bis unmöglich, eine Immobilie zu verkaufen, die keine nachhaltige Heiz- und Kühllösung anzubieten hat und insofern zahlt sich eine langfristige Betrachtung nach Lebenszyklus immer mehr aus. Für die Verkäufer, und im Umkehrschluss natürlich auch für Immobilien-Käufer.

 

Das Team der Geothermie von Porr auf der Baustelle, gemeinsam mit ihrer Leiterin Anita Angerer

Macht es Sinn, die ganze Welt mit Geothermie zu versorgen?

Naja. Es ist ideal in Regionen, in denen sowohl Heiz- als auch Kühlbedarf vorhanden ist, wodurch sich das System das ganze Jahr über ausnutzen lässt. Ich gebe dem Erdreich im Sommer das zurück, was ich ihm im Winter entnommen habe. Weiter im Norden hätte ich einen geringeren Ertrag, weil ich im Sommer nicht so viel zurückgeben kann, und in südlichen Ländern eignet sich das System eher für die Strom- als für die Wärmeerzeugung. 

 

Wo liegt die Zukunft der Energieversorgung?

Betrachtet man den Gesamt-Energiebedarf Österreichs, so macht Wärmeversorgung beinahe die Hälfte aus. Hier kann die Erdwärme also ein echter Gamechanger für die Energiewende sein. Und ja, ich denke, dass in unseren Breitengraden die Erdwärme künftig eine wichtige Komponente in der nachhaltigen Energieversorgung spielen wird.

 

Gibt es ein besseres oder intelligenteres System?

Es ist schon ziemlich State-of-the-art. Fernwärmeversorgung durch Geothermie, also die tiefe Geothermie, ist auch eine großartige Sache. Wobei dies aber eher eine kommunale Angelegenheit ist.

Was sollte ich sonst
noch unbedingt über
Geothermie wissen?

  • Im Neubau sollte ich als Bauherr Geothermie auf jeden Fall andenken und natürlich auf ein möglichst flächiges Verteilsystem, also Fußboden- oder Wandheizung und Deckenkühlung, für größtmögliche Effizienz achten.

  • Seit 2023 ist auch im Gebäudebestand eine grundsätzliche Realisierbarkeit durch veränderte gesetzliche Rahmenbedingungen gegeben, da nun Bohrungen auf öffentlichem Gut, also bspw. den Gehsteigen, möglich sind. Wenn Hofflächen nicht zugänglich oder in ausreichendem Maß vorhanden sind, können so nun ausreichend Bohrungen gesetzt werden. Unabdingbar sind jedoch ein geeignetes Verteilsystem im Haus und natürlich eine thermische Sanierung vorab, um den Grundenergiebedarf so gering wie möglich zu halten.
  • Insbesondere bei sehr großen Projekten wird häufig eine Kombination verwirklicht, bei der Erdwärme die Grundlast abdeckt und Nutzungsspitzen durch andere Energieträger versorgt werden.
  • Niedrige Betriebskosten: Geothermische Systeme sind energieeffizient und können langfristig zu erheblichen Einsparungen im Gebäudebetrieb führen.

Man merkt dir die Freude an deinem Beruf an. Was fasziniert dich so daran?

Der Grund-Sinn, der jeden einzelnen Tag bei der Arbeit vorhanden ist. Zum Schutz der Umwelt Gebäude mit einer vernünftigen Heizung auszustatten, die dann keine Emissionen verursacht, ist irrsinnig zufriedenstellend und nach bestem Wissen und Gewissen aktuell das Gescheiteste, was man machen kann. Es ist schön, eine so sinnvolle Beschäftigung zu haben, die auch für die nächste Generation einen Wert hat. Alles andere gefällt mir auch. Die vielfältigen Fragestellungen, die jeden Tag auf mich zukommen. Das Entwerfen und Berechnen der Anlagen. Und das Arbeiten in meinem super Team. Großes kann man nämlich nur erreichen, wenn’s auch menschlich miteinander passt.

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Wie heizt und kühlst du persönlich?

Mit einer einzigen Erdwärmesonde. Die reicht bei meinem gut gedämmten Haus.

Anita Angerer in 30 Sekunden

Anitas Tätigkeitsschwerpunkt liegt seit Beginn ihrer beruflichen Laufbahn in der Entwicklung und Umsetzung von innovativen, energieeffizienten und ressourcenschonenden Technologien. Heute ist sie Leiterin der Geothermie bei Porr, wo sie seit 2003 tätig ist. Studiert hat sie an der Boku, nämlich Kulturtechnik und Wasserwirtschaft, und sie erinnert sich noch gern an das alte Tüwi-Beisl dort. An ihrem Job liebt die geerdete Frau, dass er Baustellenluft, immer neue Gegebenheiten, Praxis und Forschung sowie einen positiven Einfluss auf die Umwelt in sich vereint. Neben ihrem Job liebt sie ihre Familie, Yoga als Ausgleich, Literatur von Thomas Bernhard (immer schon) und John Strelecky (neuerdings) sowie Reisen in den tiefsten südamerikanischen Urwald. Ihre Pasta genießt sie am liebsten scharf und mit Salat.

 

Wir danken... für das Interview & die sehr fruchtbare Projektpartnerschaft!

Fotos & Grafik: PORR & AVORIS

 

G'mischter Block

Wohnen in St. Gotthard