Think urban #2 - Brodelnder Gemüsetopf!
- Thema
- Inspiration & Information
- Datum
- 08.06.2020
THINK URBAN #2 - Der „brodelnde Gemüsetopf“ als Sehnsuchtsort: Die Stadt zwischen pulsierender Metropole und Dorfgemeinschaft.
Wer den Roman „Der Trafikant“ kennt, erinnert sich vielleicht an die Szene, in der Franz Huchel das erste Mal nach Wien kommt. „Die Stadt brodelte wie der Gemüsetopf auf Mutters Herd“, beschreibt Robert Seethaler die Eindrücke seines Romanhelden. „Alles war in ununterbrochener Bewegung, selbst die Mauern und Straßen schienen zu leben, atmeten, wölbten sich.“
So faszinierend das ist, kann es gleichzeitig auch beängstigend und bedrohlich sein. Schon kurz darauf kommt Franz an seinem Bestimmungsort an: der kleinen Trafik Otto Trsnjeks in der Währingerstraße, eingezwängt zwischen dem Installationsbüro Veithammer und der Fleischhauerei Roßhuber. Dort ist das Leben ruhig, geprägt von Ritualen, Routinen, von Begegnungen und Gesprächen mit Stammkunden, Lieferanten und Nachbarn. Ein beinahe ländliches Idyll.
Monokulturen und Geisterstädte
Der Schlüssel zum Funktionieren eines Grätzel ist die Mischnutzung. Davon spricht man, wenn in einem Haus oder einem Grätzel neben Wohnraum auch Flächen für Gewerbe, Handwerk, Dienstleistung oder Gastronomie zur Verfügung stehen. Fehlen dafür die infrastrukturellen und baulichen Voraussetzungen, gibt es keine Mischnutzung und auch kein Grätzel. Diese Monokulturen münden in Geisterstädte.
Ein Killerkriterium für das Grätzel ist die fehlende Anbindung an den öffentlichen Verkehr. Das hat die Stadt Wien früh erkannt und bspw. beim Projekt Seestadt zuerst die U2 bis Aspern verlängert. Als die Station im Oktober 2013 eröffnet wurde, gab es noch keine Stadt, nur eine Baustelle. Erst ein Jahr später wurden die ersten Wohnungen an Eigentümer und Mieter übergeben. Jetzt kann man der Seestadt dabei zusehen, wie sie wächst, sich Leben entwickelt, Eigendynamik entsteht – und wie sich Grätzeln bilden.
Brodelnder Hauptbahnhof
Rund 14 Kilometer entfernt, in südöstlicher Richtung ist die Verkehrsinfrastruktur ebenfalls fertig und ein hochtouriger Motor für neue Stadtquartiere: Der Wiener Hauptbahnhof – zuerst in Etappen und im Dezember 2014 schließlich offiziell eröffnet – ist ein brodelnder Gemüsetopf. Ein einzigartiger Verkehrsknotenpunkt mit Zügen, S-Bahnen, U-Bahn, Straßenbahnen und Bussen. Rundherum haben sich Hotels und Bürogebäude mit tausenden Arbeitsplätzen angesiedelt.
Rückeroberung öffentlichen Raums
Unweit davon liegt innerhalb der Dampf-, Jagd- und der Hasengasse ein „Wiener Block“, eine geschlossene, etwas gesichtslose, überirdische Garagenhalle. Wir von AVORIS wollen hier von Grund auf neugestalten und gemischt nutzen. Das wird unser „G’mischter Block“. Wohnungen, Büros, Gewerbebetriebe, Gemeinschaftsbereiche, ein Kindergarten und Gastronomie – sowohl als nichtkommerzielles, gemeinschaftliches als auch als professionelles Angebot – sollen sich dort wie die verschiedenen Rebsorten im „Gemischten Satz“ zu einem harmonischen Ganzen ergänzen. Dabei setzen wir auf die Idee des „StadtParterres“, auf nutzungsneutrale Raumhöhen und die Rückeroberung des öffentlichen Raumes.
Willkommenskultur
im Stadtbild
Wir wollen den kostbaren städtischen Raum sinnvoll nutzen und durch Aufstockung verdichten. Nicht alles, was alt ist, ist schützenwert. Sentimentalitäten sind also fehl am Platz, wenn es gilt, sich von Altem zu lösen, um Lebensqualität zu schaffen.
Wir machen aus der alten Garage und den angeschlossenen Räumlichkeiten ein sogenanntes „StadtParterre“. Das ist eine Zone, in der umbaute und nicht umbaute Areale wie Straßen, Gehsteige, Erdgeschoße und Innenhöfe eine Einheit bilden. Klingt simpel, ist es aber nicht. Erdgeschoße, die mit Wohnungen, Garagen, Müll-, Abstell- oder Lagerräumen blockiert sind, verhindern jede Nutzung als öffentlichen Raum. Wer hier nicht wohnt, ist nicht willkommen, teilt uns schon die Fassade mit. Nutzungsneutrale Raumhöhen durchbrechen diese bauliche Blockade. Dann erst können Gastronomie-, Handels- und Gewerbebetriebe ebenso wie Kindergärten, Büchereien oder andere Orte der Begegnung geschaffen werden. Im „G'mischten Block“ machen wir genau das. Es braucht eine Öffnung nach innen und außen, ein Kontaktangebot an Nachbarn und Passanten.
Okkupationsfeldzug
des Autos beenden
Die für die Bildung eines Grätzels so wichtige Begegnungsqualität wird viel zu oft durch eine kaum hinnehmbare Okkupation verhindert: Unfassbare 67 % des öffentlichen Raumes in Wien sind Fahrbahnen für Autos.
Dabei werden nur 25 Prozent aller Wege mit dem Auto zurückgelegt, hat Ulrich Leth, Verkehrsplaner an der TU Wien, errechnet. Eine unverschämte Platzverschwendung. Mit 31 Prozent ist der Anteil der Gehsteige entsprechend gering. Kein Wunder, dass diese oft nur die festgesetzte Mindestbreite von 2,5 Metern aufweisen. Erst ab vier Metern wird jenes Stadtleben möglich, das ein Grätzel braucht. Erst wenn wir das platzvernichtende Schrägparken zurückdrängen, werden Bepflanzung, Begrünung, Beschattung, Schanigärten und zwanglose Alltagsbegegnungen möglich. Auch in den Innenhöfen müssen wir die fahrlässige Platzverschwendung durch parkende Autos beenden.
Lebensqualität
Das verstehen wir unter der Rückeroberung des öffentlichen Raumes. Wenn uns die steigenden Immobilien- und Mietpreise zur Verdichtung zwingen, können wir uns keine Vergeudung durch Parkplätze leisten. Die Autos unter die Erde zu verbannen, ist eine gute Lösung – und auch der Qualität von Projekten und der Lebensqualität zuträglich.
Der Zufall als verlässlicher Partner
Viele dieser neuen Ideen und Perspektiven wollen wir im „G'mischten Block“ realisieren. Er wird eine Art Brückenfunktion zwischen dem pulsierenden Hauptbahnhof mitsamt den Bürohochhäusern und der Favoritenstraße mit den Institutionen Eissalon Tichy, Amalienbad und Viktor-Adler-Markt einnehmen. Wie konkret sich das alles entwickeln wird, wissen wir freilich nicht. Wir müssen uns überraschen lassen. Aber wir haben einen verlässlichen Partner an unserer Seite: den Zufall!
Was macht uns so sicher, dass es funktioniert?
Ein kurzer Blick ins nahe gelegene Sonnwendviertel etwa. Wohnungen für 13.000 Menschen sind dort vorgesehen. Das ist, als würde man Korneuburg neu errichten. Auch 20.000 Arbeitsplätze sollen entstehen. Pionierarbeit hat das Architekturbüro feld72 geleistet. Sie haben das „Haus am Park“ – nämlich am großzügigen Helmut-Zilk-Park – geschaffen. Dass die Architektur elegant ist, soll nicht unerwähnt bleiben. Wirklich richtungsweisend ist aber das Leben im Inneren: Büros, ein Tanzstudio für Kinder, komfortable Wohnungen, kleine bunte Gemeinschaftsräume, Hochbeete auf der Dachterrasse und ein sogenanntes „Chilletarium“. Die gestalterische Idee beschreiben die Planer von feld72 so: „Das Gebäude greift als Typologie die Charakteristika alter Stadthäuser auf, die eine Vielfalt an Nutzungen ermöglicht.“ Genau diese Vielfalt an Nutzung – oder gemischte Nutzung – ist auch das Ziel unseres G'mischten Blocks.
Perspektivenwechsel in Traun
Nicht minder spannend ist für uns das Stadtteilzentrum Traun-St. Dionysen. Die mit knapp 25.000 Einwohnern fünftgrößte Stadt Oberösterreichs hat vier Stadtteile, aber nur drei Stadtteilzentren. Das fehlende errichtet AVORIS ab Oktober in St.Dionysen. Der Stadtteil ist eine gewachsene Wohngegend mit Kindergärten, Seniorenheim und großzügigen Sportplätzen. Was fehlt, ist eine Nahversorgung, die als Stadteilzentrum und Begegnungszone fungiert.
Gemischte Nutzung ist auch hier der Schlüssel, um dieses anspruchsvolle Ziel zu erreichen. Mit Arztpraxen, einer Apotheke, Gastronomiebetrieben, verschiedensten Handels- und Dienstleistungsunternehmen, Büros, einem Spielplatz und Freiflächen soll das neu errichtete Stadtteilzentrum für die gesamte Bevölkerung zum Ort der Begegnung und kommunaler Treffpunkt werden. In enger Abstimmung mit der Stadtgemeinde ist auch in Traun ein Konzept entstanden, das die Lebensqualität der Bevölkerung erhöht.